Infrastrukturgeschichte als Kompass für die Stadt der Zukunft
Wie können uns historische Erfahrungen helfen, heutige Krisen besser zu navigieren? Im DFG-Projekt „Past-Proofing Infrastructure Futures“ zeigt Professor Timothy Moss, wie die Geschichte urbaner Technologien und Infrastrukturen als Orientierung für Transformationsprozesse dienen kann. Professor Timothy Moss ist Senior Researcher an der IRI THESys der Humboldt-Universität Berlin, von der Leibniz Universität Hannover wurde ihm eine Honorarprofessur verliehen. Das vom InfraLab Berlin unterstützte Projekt befindet sich derzeit in seiner finalen Phase und liefert wichtige Impulse für eine zukunftsorientierte und reflektierte Stadtentwicklung.
Warum ist es aus Ihrer Sicht so wichtig, historische Perspektiven stärker in aktuelle Klima- und Infrastrukturdiskussionen einzubringen?
Die Geschichte bietet eine Erfahrungsressource, die in unseren zukunftsorientierten Debatten allzu oft ignoriert wird. Aber wir können es uns nicht leisten, auf Erkenntnisse über das Handeln früherer Generationen zu verzichten. Die Infrastrukturgeschichte Berlins liefert wichtiges Kontextwissen, spannende Analogien, überraschende Impulse und kritische Reflexionen für heutiges Handeln – allerdings nur, wenn man sie mobilisiert.
Warum ausgerechnet Berlin als Untersuchungsraum?
Zum einen: Berlin ist krisenerprobt – dank ihrer turbulenten Geschichte. Der Umgang mit großen infrastrukturellen Herausforderungen technischer, politischer, sozioökonomischer und materieller Art ist der Stadt und ihren Netzbetreibern nicht neu. Zum anderen: Berlin war oft Vorreiter von innovativer Infrastrukturtechnik, -politik und -praxis. Die Geschichte zeigt’s: Berlin kann doch Infrastruktur!
Gibt es bestimmte Berliner Infrastrukturprojekte oder -phasen, die Sie als besonders „lehrreich“ für heutige Transformationsprozesse betrachten?
Ja, die 1920er Jahre stechen besonders hervor. Damals wurde Infrastrukturplanung in eine integrierte Stadtpolitik proaktiv eingespannt – zur Erreichung vielfältiger sozial- und wirtschaftspolitischer Ziele der wachsenden Stadt. Möglich gemacht wurde dies durch die enge Zusammenarbeit zwischen Stadtpolitik, Betrieben und Verwaltung auf höchster Ebene – ein wahres Vorbild für heute.
Ein lehrreiches Infrastrukturprojekt ist, finde ich, die Ruths-Dampfspeicheranlage am Heizkraftwerk Charlottenburg. Erbaut 1928/29 zur Deckung der Spitzenlast des Strombedarfs und später wichtig zur Stabilisierung des Stromnetzes in West-Berlin steht sie als frühes Beispiel von „power-to-X“ – in diesem Fall „power-to-steam“.
Welche Akteursgruppen binden Sie in Ihre Forschung ein – und wie gelingt es, Wissenschaft und Praxis in Dialog zu bringen?
Mein aktuelles Projekt über „usable pasts“ bezieht Berliner Stakeholder als potentielle Nutznießer von Infrastrukturgeschichte direkt ein. Mit unterschiedlichen Formaten – von interaktiven Workshops und Paneldiskussionen bis hin zu Exkursionen und einer Ausstellung – haben wir Vertreter*innen aus Ver- und Entsorgungsbetrieben, Museen, Senatsverwaltungen, Umweltgruppen aber auch der allgemeinen Öffentlichkeit in die Generierung von nutzbarer Geschichte für heutige Herausforderungen eingebunden. Es ist nicht einfach, leitende Verantwortliche für solche experimentelle Events einzuspannen, aber die durchweg positive Resonanz der Beteiligten hat uns überwältigt.
Was könnten kommunale Akteure, Stadtwerke oder Netzbetreiber aus Ihrer Arbeit lernen?
Der Umgang mit vergangenen Krisen war ein Wunschthema aus unserem ersten Stakeholder-Workshop. Hierfür entwickelten wir einen interaktiven Workshop über infrastrukturelle Visionen zur Lösung zeitspezifischer Krisensituationen. Ein Fall befasste sich mit befürchteten Engpässen in der Wasserversorgung Berlins der 1920er und einem detaillierten Plan für Wasserimporte aus Oder und Elbe. Für vielen Wasserwirtschafler:innen – auch bei unserem Workshop – ist dieser Plan unbekannt, jedoch angesichts ähnlicher Überlegungen heute von hoher Relevanz. Ein anderer Fall befasste sich mit der Energiesicherheit West-Berlins im Kalten Krieg. Die ständige Reflexion über das richtige Verhältnis zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeiten in der Strom- und Gasversorgung, die aus den Archivbeständen ersichtlich wird, ist für heutige Energieplanungen unter Bedingungen der geopolitischen Spannung und unsicheren Bedarfsentwicklungen extrem lehrreich.
Wie kann historische Forschung ganz konkret dazu beitragen, heutige Infrastrukturentscheidungen nachhaltiger zu gestalten?
Sie liefert Antworten auf Fragen zu einer fundierten Entscheidungsfindung, wie: Gibt es vergleichbare Projekte in der Vergangenheit und was können wir daraus lernen? Wie hat man früher neue Technologien in bestehende Infrastruktursysteme eingefügt? Wie ging man bei der Infrastrukturplanung mit Unsicherheiten und veränderten Rahmenbedingungen um? Wie anpassungsfähig erwiesen sich alte Techniken und was heißt das für die Umnutzung bestehender und neuer Techniken? Wie lassen sich frühere Infrastrukturentscheidungen im Rückblick beurteilen und wie könnten wir das Risiko von Misserfolgen so minimieren?
Wenn Sie auf den aktuellen Zukunftsdiskurs schauen: Was geht Ihrer Meinung nach verloren, wenn wir die Vergangenheit ausblenden?
Vieles: Das Gespür für Kontextbedingungen und Entwicklungsverläufe, die Offenheit für alternative Lösungsansätze aus der Vergangenheit, Erkenntnisse über die Ursachen von Erfolg oder Misserfolg einer Infrastrukturpolitik sowie die Chance, frühere Entscheidungsprozesse aus der Retrospektive zu bewerten. Wie ein Workshop-Teilnehmer es treffend formulierte: Beim Autofahren benutzen wir zur allgemeinen Sicherheit ständig den Rückspiegel – warum nicht auch bei der Zukunftsgestaltung unserer Stadt?
Wie sieht für Sie die Stadt von morgen aus?
Sie schaut nicht ängstlich, sondern offen und mutig in die Zukunft – u.a. dank einer kontinuierlichen Reflexion über Erfolge und Fehler der Vergangenheit. Wie wir es im Projekt nennen: gutes „future-proofing“ erfordert fundiertes „past-proofing“!
Weitere Informationen:
- zum Projekt: u-pasts.com
- Kontakt: moss@hu-berlin.de
