Die tägliche Überproduktion und Verschwendung von Lebensmitteln zeigt, wie wenig verantwortungsvoll wir hierzulande mit wertvollen Nahrungsressourcen umgehen. Geschätzt 18 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland pro Jahr weggeworfen. Gut, dass sich ein Start-up in Berlin um deren Rettung kümmert.
„Be the change you wish to see in the world“, von diesem Mahatma Gandhi-Zitat ließen sich Raphael Fellmer (CEO) und Martin Schott (COO) zu ihrem Engagement für mehr Kreislaufwirtschaft inspirieren. Seit 2009 retten sie Lebensmittel. Zunächst ehrenamtlich, seit knapp zwei Jahren aber auch professionell als Gründer von SIRPLUS. Die Mission dahinter: Lebensmittelretten in die Mitte der Gesellschaft tragen und damit salonfähig machen.
Wow, da gibt es einen Laden, der abgelaufene Lebensmittel verkauft?
SIRPLUS kauft Lebensmittel von Großhändlern, Herstellern, Online-Shops aber auch Bauern und verkaufen sie für einen kleinen Preis weiter in eigenen Rettermärkten sowie im Online-Shop. Der erste Laden in dem es überwiegend abgelaufene, aber noch bestens genießbare Lebensmittel gibt, startete im September 2017 in Charlottenburg. Im Juli 2018 öffnete SIRPLUS seinen zweiten Rettermarkt in Berlin Steglitz.
Der Deal: Unternehmen sparen Transport- und Entsorgungskosten, leisten einen Beitrag zu CSR und die Kunden sparen Geld – bis zu 80 Prozent vom normalen Ladenpreis. Raphael nennt das eine „Win-Win-Win-Situation“. Über 800 Tonnen Lebensmittel haben SIRPLUS mittlerweile gerettet, über eine Millionen Produkte an 150.000 Kunden verkauft und die Waren somit zurück in den Verbraucherkreislauf geführt.
Nicht nur die Rettermärkte sind erfolgreich, auch der Online-Shop ist auf über 150 Produkte angewachsen. Bio, vegetarisch oder vegan, ob als Abo-Box oder Einzelbestellung – die SIRPLUS-Produkte können ins Büro oder nach Hause bestellt werden.
70 Mitarbeiter arbeiten derzeit bei SIRPLUS. Ein intrinsisch motiviertes Team, dass sich nicht nur dem Job gegenüber verantwortlich fühlt, sondern vielmehr Teil einer ganzheitlichen Überlegung und Bewegung ist. Ihrem Handeln liegen ethische Fragen zugrunde: Wie ist es möglich, dass 50% aller Lebensmittel in Europa verschwendet werden und gleichzeitig 800 Millionen Menschen an Unterernährung leiden? Wie hängen wir alle zusammen, verbunden im Kreislauf der Abfallwirtschaft? „Alle hungernden Menschen in der Welt könnten mit den überschüssigen Lebensmitteln vier Mal ernährt werden“, sagt Martin, „aber es ist auch ein Umweltthema, weil die Lebensmittelverschwendung für acht Prozent aller CO2-Emissionen verantwortlich ist und damit ein großes Problem, aber auch eine große Chance darstellt, zu einem nachhaltigen Lebensstil zu gelangen.“
Zunächst wäre es wichtig, dass das Thema der Lebensmittelverschwendung, und damit ist eigentlich die Lebensmittelwertschätzung gemeint, fester Bestandteil im Lehrplan aller Schulen wird. „Wir sehen uns ganz klar als ein Unternehmen, dass – neben dem konkreten Retten – einen gesellschaftlichen Diskurs und mehr Achtsamkeit anregen will. Es ist Zeit den Wandel zu leben und an einem Strang zu ziehen für ein riesiges Problem, dass wir natürlich nicht alleine lösen können, aber das sich in die richtige Richtung bewegt“, erklärt Raphael.
Die Bewusstseinsänderung müsse zuerst in den Köpfen der Menschen stattfinden. SIRPLUS setzt dabei auf Mund-zu-Mund-Propaganda bei Freunden und Nachbarn und die Medien. Kunden erfahren dann aus dem Fernsehen, dass es Supermärkte gibt, in denen abgelaufene Lebensmittel verkauft werden. Oftmals löst es einen Wow-Effekt aus, aber auch Skepsis, die dazu führt, den eigenen Umgang mit Lebensmitteln zu hinterfragen.
Raphael stimmt das positiv: „Das pisackt. Das ist für die Leute, die Produkte normalerweise nach abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum wegschmeißen, ein gewisser Teaser. Die Leute fragen sich dann, ob sie etwas falsch machen, oder ob wir verrückt sind“. Vor 35 Jahren wurde das Mindesthaltbarkeitsdatum eingeführt, heutzutage liegt die Herausforderung im Sinne der Kreislaufwirtschaft eher darin, den tatsächlichen Genusswert von Lebensmitteln jenseits von Mindesthaltbarkeits- und Verfallsdatum überhaupt wieder zu erkennen und dafür wollen die Berliner den Menschen Mut machen.
50 Prozent aller verschwendeter Lebensmittel fallen nach wie vor in Privathaushalten an. Aber wie lässt sich das umgehen? Ich frage die Gründer, ob sie zuhause nie etwas wegschmeißen? „Doch klar!“, sagt Raphael, „das lässt sich nicht vermeiden. Es gibt Sachen, die sind an einem Tag noch gut und am nächsten umgefallen. Oder man vergisst mal etwas im Kühlschrank, aber das ist selten“. Doch wenn jeder Einzelne darüber nachdächte, wie er mit seinen Lebensmitteln umgeht, dann wären wir schon einen großen Schritt weiter. Lebensmittelwertschätzung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe kann auch Freude bereiten und Spaß machen.
Bewusstsein schärfen für die gemeinsame Sache
Die Partnerunternehmen haben aus Sicht der beiden den ökonomischen Mehrwert der Lebensmittelrettung längst verstanden: Wer nicht fairtrade handelt verliert Marktanteile, lautet die simple Rechnung.
Natürlich gleicht das Gründer-Dasein auch einer Achterbahnfahrt zwischen guten und schlechten Zeiten. Umso wichtiger seien Partner, die sich für die Sache begeistern lassen und je nach Möglichkeiten unterstützen. Anfang Oktober haben SIRPLUS zwei Büros im InfraLab – zunächst bis Ende des Jahres – bezogen. Für Martin und sein Team ist es eine Bereicherung „in so einer schönen Atmosphäre arbeiten zu können und weiterhin neben interessanten anderen Start-up’s zu sitzen. Auch der Kontakt zu den InfraLab-Partnern ist sehr hilfreich, insbesondere zur BSR, mit der wir uns schon seit über einem Jahr in einer Partnerschaft befinden, die sich in diesem Zuge nun intensivieren kann“.
300 Betriebe zählt das Partnernetzwerk von SIRPLUS aktuell – darunter auch Berlin Recycling. Sechs Tage die Woche rettet das Team die Lebensmittel die bei Metro Standorten von den Tafeln nicht mitgenommen werden. Es gilt das „Tafel-first-Prinzip“. Das bedeutet die Tafeln haben immer Vorrang, SIRPLUS rettet nur Lebensmittel, die von der Tafel Deutschland e.V. nicht abgeholt werden.
Gibt es Lebensmittel, die nicht gerettet werden dürfen? „abgelaufenes Hackfleisch zum Beispiel“, antwortet Raphael, „Lebensmittel, die vom Verbrauchsdatum bereits abgelaufen sind. Ansonsten darf man alles retten“.
Denken Sie groß – Lebensmittel retten mit Herz und Blick in die Welt
Blicken wir noch einmal auf SIRPLUS zusammengefasst: zwei Rettermärkte in Berlin, ein Online-Shop mit 150 Produkten, 300 Partnerbetriebe, 800 Tonnen gerettete Lebensmittel, Workshops und Führungen. Aber dabei wollen es Raphael und Martin nicht belassen. Global denken und regional agieren, das ist ihr Leitsatz. Denn die Thematik ist ein 1,6 Milliarden-Tonnen-Problem, das nicht an deutschen Grenzen Halt macht.
Erstmal Berlin, dann Europa und dann die ganze Welt – angefangen mit Asien und Afrika. Nicht ohne Grund und strategische Überlegung trägt das Unternehmen von Beginn an einen internationalen Namen. „Läden ohne Ökostrom, ohne Fairtrade-Handel und eben ohne gerettete Lebensmittel wird es in Zukunft nicht mehr geben“, beteuern die beiden.
Aber was passiert, wenn das Umdenken soweit geht, dass beispielsweise Mindesthaltbarkeits- und Verfallsdatum angeglichen werden und damit die Rettung von Lebensmitteln nach dem SIRPLUS-Konzept obsolet macht? „Das wäre super!“, erwidert Raphael, „wenn wir nicht mehr nötig sind, haben es alle verstanden. Am Ende sind wir alle Menschen, auch diejenigen, die große Konzerne managen. Und Menschen haben immer ein Herz“. Martin fügt hinzu: „Ich hoffe, dass sich die Lebensmittelverschwendung entlang der Wertschöpfungskette bald stark reduziert hat, damit würde sich unser Fokus auch dahingehend verschieben, Unternehmen bei der internen Vermeidung von Lebensmittelverschwendung zu helfen und zu beraten und uns noch stärker als bisher auf Bildungsarbeit zu konzentrieren“.
Das Wort „Herz“ fällt im Gespräch mit den Sirplus-Gründern acht Mal.